Montag, 7. Januar 2013

Kapitel 66

Die Ungläubigkeit und Überraschung stand Liam förmlich ins Gesicht geschrieben. Hätte er aufrecht gestanden, hätten seine Beine ihren Dienst versagt. Doch er saß glücklicherweise und riss nur die Augen auf. »Wie...? Was...?« brachte er nur hervor und betrachtete Noah voller Ehrfurcht. Vielleicht war das ja alles wieder ein Traum. Oder eine verrückte Ausgeburt seiner Fantasie. Er zwickte sich einmal, zweimal, ein drittes Mal in den Unterarm, doch die Realität blieb ihm erhalten. »Du kannst auch ruhig wieder sprechen.« schlug Noah mit einen Lächeln vor. Liam nickte ungläubig, brachte aber dennoch keinen Mucks hervor. Erst nachdem er sich geräuspert hatte, fand er seine Stimme zurück. »Das ist ... erstaunlich.« brachte er schließlich nüchtern hervor. Noah nickte. »Nicht viele wissen davon. Und das kann auch gerne so bleiben.« Liam betrachtete nun seine Decke. »Und wie geht es dann weiter? Ich meine, nach dem Krankenhausaufenthalt. Ich kann ja schlecht ewig hier bleiben.« Noah blieb unverändert in seiner Position. »Das wird dir dein Bewährungshelfer noch ausführlich erläutern. Ich muss dann jetzt auch los. Man sieht sich später vielleicht nocheinmal.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer und Liam bleib erneut allein zurück, mit unendlich vielen Fragen. Es war immer noch kaum zu fassen.

Die nächsten Tage verbrachte Liam abwechselnd mit Fernsehn schauen oder schlafen. Seine Verletzungen machten es ihm nicht gerade möglich, sich irgendwo fortzubewegen. Auch sein Arzt riet ihm dringenst, sich noch zu schonen. Erst eine Woche später stand Noah wieder in seinen Zimmer, doch dieses Mal war er nicht allein gekommen. Ein Mann mittleren Alters im Anzug, mit Brille und einen gewissen Anflug von ergrauten Haar, stand neben ihm. Er stellte sich als Nathan Evans vor. Sogleich legte er seine Aktentasche ab und setzte sich auf einen der freien Stühle. Noah zog es vor, zu stehen. Liam versuchte, so gut es ging, den Worten seines Bewährungshelfers zu folgen, doch oftmals wurde er von Müdigkeit überrannt. Es kostete ihm eine Menge Selbstbehrrschung, nicht einzuschlafen. Liam war den Göttern dankbar, als er endlich fertig war und sich zum Aufbruch zurecht machte. Er hinterließ ihm noch einen Ordner voller Papiere und verkündete, das er sich die nächsten Tage nocheinmal melden würde. Als er die Tür ins Schloss fiel, lachte Noah belustigt auf. »Hast du überhaubt mitbekommen, was er gesagt hat?« Liam schüttelte benommen den Kopf und hatte schon die Augen geschlossen. »Nicht wirklich.« murmelte er und drehte sich auf die Seite. Das Letzte, was Liam wahrnahm, war der Hauch eines Kusses auf seiner Stirn. Oder war es nur Einbildung gewesen? Er fiel in das Land der Träume.

Die nächsten Wochen vergingen, und Liam fühlte sich zunehmend besser. Die kleinen Erfolge, selbstständig gehen zu können, machte ihn Mut, bald herauszukommen. Beinahe jeden Tag erhielt er abwechselnd Besuch von Noah oder Mr. Evans. Liam erfuhr, das er nach seiner Entlassung in eine betreute Wohngemeinschaft kam. Zusammen mit vier anderen würde er dann die nächsten Monate, ja gar Jahre zusammenleben müssen. Ohne Geld würde er auch nicht dastehen. Nein, Mr. Evans besorgte Liam einen kleinen Aushilfejonb in einer Großküche. Nichts Spektuläres, aber besser als gar nichts. Bei guter Führung wäre er sogar vorzeitig seine elektronische Fußfessel los. Doch das war für Liam bisher nur Zukunftsmusik. Doch im Hinterkopf behielt er immer wieder, nach Laurie zu suchen. Keinen einzigen Tag konnte er sie nicht vergessen. Die Akte wurde ihm längst abgenommen, und ein Foto hatte er nicht. Ihm blieb nach wie vor die Erinnerung an sie. Der Tag der Entlassung kam und Liams Gepäck wär spärlich. Noah hatte ihm eine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken besorgt, die er fürs Erste nehmen konnte. Die Fahrt verlief quer durch die Stadt in einen unaufälligen Auto. Interessiert huschten Liams Augen über die Innenstadt und deren Menschen. Es fühlte sich alles unwirklich und fremd an. Sein früheres Leben erschien ihn wie ein Traum, weit entfernt aber doch irgendwie greifbar. Der Wagen hielt vor einen unscheinbaren Betonklotz an. Die Hochäuser rings herum ließen das Gebäude winzig wirken und wirklich Sonne gab es auch nicht. »Über Ihre Ankunft ist man schon informiert. Auch wenn es naiv erscheinen mag, werden Sie Tagsüber von einen Sozialarbeiter betreut.« Liam nickte. Damit hatte er keine Probleme. Das Innere des Gebäudes war überraschenderweise sauber. Sehr sauber sogar. So viel Ordentlichkeit hätte Liam gar nicht erwartet. Fernsehgeräusche schlugen ihn schon im Flur entgegen, der sehr offen gestaltet war. Auch vereinzelte Küchengeräusche waren zu vernehmen. Eine Person kam Liam entgegen, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, da dieses von einen riesigen Stapel Handtücher verdeckt wurde. Folgedessen lief die Person direkt in Liam hinein und die ganzen Handtücher verteilten sich auf den Boden. Erst jetzt sah er, das es sich dabei um ein Mädchen mit langen, feuerrotem Haar handelte. Sie konnte nicht älter als zwanzig, vielleicht einundzwanzig sein und trug zahlreiche Lederarmbändchen um ihre Handgelenke. »Ah, ich Tollpatsch! Tut mir verdammt Leid!« Sie heufte alles zusammen, was die ganze Arbeit zunichte machte, doch Liam kam ihr zur Hilfe. Ihre Hände berührten sich kurz, doch das reichte, um einen winzigen Funken auszulösen.

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