Samstag, 20. Oktober 2012

Kapitel 61

Kahlweise Wände und der Geruch von Alkohol lag in der Luft, als Liam die Augen öffnete. Sein Kopf dröhne unaufhörlich, so, als würde jemand mit einen Hammer dagegenschlagen. Langsam griff er danach und spürte einen Verband. Sein Blick klärte sich nur langsam auf und er konnte schemenhafte Gestalten sehen. Eine davon war Noah, der sich über ihn gebeugt hatte. Er schaute ihn ausdruckslos an, doch er konnte sich nicht beherrschen, das kleine Zucken seines Mundwinkels zu verbergen, was ein Lächeln vermuten ließ. »Willkommen zurück, Opa.« rief Noah und für Sekunden stahl sich dieses kleine Lächeln auf sein Gesicht. Liam wollte sich aufrichten, stöhnte aber unter dieser Anstrengung und ließ sich zurücksinken. Er lächelte seinen Zellgenossen an und fragte: »Ist etwas passiert?« Noah nickte. »Und ob.« antwortete er und zog einen kleinen Hocker an das Bett. Ehe er sich Liam zuwendete, zog er den Vorhang zu, das Beide von den Nachbarbett getrennt war. Ein kostbares Gut von Privatsphäre, was es nur auf der Krankenstation gab. »Wir waren schon in Sorge, das du es nicht schaffen würdest.« Er deutete auf Liams Bauch, der seine dünne Steppdecke hochhob. Ein fetter Verband umschlang seinen Körper und irgendwelche Schläuche führten davon fort. »Darfst du dich denn hier überhaubt aufhalten?« fragte Liam mit einen Grinsen, worauf Noah näher an das Krankenbett heranrückte. Sein Blick war ungewöhnlich ernst, und ehe sich Liam versehen konnte, ergriff Noah seine Hand und drückte ihn gewaltsam einen Kuss auf den Mund. Liam war davon so dermaßen überrumpelt, das er sich gar nicht wehren konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er endlich, unter große Mühe, sich Noah entziehen konnte. Ein überraschtes Keuchen drang aus Liams Körper, während sich Noah wieder auf seinen Platz begab. Viel zu lange herrschte Schweigen, ehe er sich, zunächst wortlos erhob. Am liebsten hätte Liam ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, doch er hatte nicht die Kraft dazu. Erst als Noah ihm dem Rücken gekehrt hatte, rief er: »Zur falschen Zeit, am falschen Ort. Draussen wärst du daran verreckt.«

Liam wollte Schlaf nachholen, doch seine rasenden Gedanken machten dies zu einen Ding der Unmöglichkeit. Er wollte und konnte seine Augen nicht verschließen. Und noch immer lag der Geschmack des Kusses auf seinen Mund. Sooft er auch mit seinen Handrücken drüberfuhr, änderte das nichts daran. Das Bild hatte sich wie so vieles in sein Gedächtnis gebrannt. Er schmiss sich auf die Seite, wurde aber zeitgleich mit den Schmerz belohnt, den er bis dahin völlig ausser Acht gelassen hatte. Sofort verzog er das Gesicht und drehte sich wieder auf den Rücken. Liams Blick wanderte über die Decke und dessen hellen Leuchtstoffröhren. Er blieb an den kleinen Tischchen neben sich hängen, wo ein Glas Wasser stand. Als er genauer die Wasseroberfläche betrachtete, konnte er erkennen, das sie vibrierte. Ja, es schien sogar auf das Glas selbst über zu gehen und Augenblicke später schüttete sich der halbe Inhalt auf die Ablage. Ein Erdbeben? Liam stützte sich auf seine Ellebogen ab und betrachtete das Glas weiterhin kritisch. Der Knall darauf folgte zugleich, den etwas erschüttete den Boden tatsächlich. Das Personal begann, hektisch im Raum umherzulaufen, währenddessen eine Art Sirene losging, die gleich darauf in einem orehnbetäubenden Knall unter ging. Liam musste sich die Ohren zuhalten und gleichzeitig sein Gleichgewicht behalten,um nicht aus den Bett zu fallen. Doch die Erschütterung wurde immer heftiger und der Lärm nahm zu. Liam landete mit der Schulter auf den harten Boden und biss sich beinahe die Zunge ab. Auch der Schmerz im Bauch wurde nicht besser. Er wollte sich wieder zurück aufs Bett ziehen, doch vor Anstrengung standen ihn Schweißperlen auf der Stirn. Es nützte nichts. Da ihn scheinbar niemand beachtete, und das Personal wie Wärter anderweitig beschäftigt waren, begann Liam, sich durch den Raum zu robben. Oder kriechen. Beides war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Und Liam hatte das Gefühl, keinen Zentimeter weiter zu kommen. Erst, als er gegen ein Bein stieß, schaute er verwirrt nach oben. Über ihn gebeugt war Noah, der ihm die Hand wortlos hinhielt. Liam zögerte einen Moment, beschloss dann aber doch noch, dessen Hilfe anzunehmen. Immerhin besser als hier unten weiterzukriechen. Noah stützte ihn, so gut es ging, als sie den Raum hinter sich lassen wollte. Man roch bereits das Feuer, als man auf den Gang trat. In dem ganzen Chaos war es ein Leichtes, davonzukommen. »Was hast du vor?« brachte Liam hinter vorgebissenen Zähnen hervor. Noah schaute ihn ernst an. »Wir brechen natürlich aus. Was dachtest du denn? So eine Chance bekommt man nie wieder.« Am liebsten wäre Liam sofort stehengeblieben und hätte sich losgerissen. Ausbrechen? Hier und jetzt? Hätte das überhaubt einen Sinn? Doch einerseits trieb in der Drang nach Freiheit nach draussen. »W-Wir müssen aber unbedingt im Büro vorbeikommen.« warf Liam dazwischen, als er sich dazu hinreißen ließ, bei der Aktion mitzumachen. Viele Möglichkeiten blieben ihn ja nicht. »Was willst du da?« fragte Noah. Zunächst schwieg sein Zellgenosse, ehe er mit der Sprache herausrückte: »Eine Akte. Ich will wissen, ob sie die hier untergebracht haben. Danach können wir sofort verschwinden.«

Es war schon bemerkenswert, wie leicht es von der Hand ging, sich ein paar Unterlagen zu beschaffen. Natürlich hatte es Liam auf die Akte von Laurie abgesehen. Eine andere Möglichkeit, daran ranzukommen, gab es nicht. In der Zwischenzeit gab es mehrere, kleine Explosionen, dessen Ursprung allerdings nicht genau festzustellen war. Den Beiden konnte es nur recht sein. Auch andere Häftlinge kam die Idee, im Chaos zu fliehen. Hier und da sah man schemenhafte Gestalten durch den Rauch. Ob es Wärter oder Gefangene waren, konnte man nicht sagen. Liam fühlte sich noch immer schwach auf den Beinen, während er halb angelehnt an der Steinmauer saß. Noah hatte er damit beauftragt, nach der Akte zu suchen. »Beeil dich.« rief er immer wieder und atemete schwer. Nach endlos quälenden zehn Minuten wurde Noah fündig und klemmte sie sich unter den Arm. Er spähte nach draussen, als er Liam wieder unter die Arme griff. Der Rauch war immer noch ziemlich dicht, was die Flucht maßgeblich erleichterte. »Wir laufen Richtung Keller.« befahl Noah, worauf Liam nur nickte. Schweiß stand ihm erneut auf der Stirn und er musste sich förmlich schleifen lassen. »Von dort aus können wir unterirdisch fliehen. Ich schätze, irgendwo in der Kanalisation kommen wir heraus.« erklärte er weiter. »Woher weißt du das nur alles?« fragte Liam. Doch Noah schwieg und zog ihn stattdessen weiter. Ihm war die Anstrengung ebenfalls anzusehen und ständig schaute er sich um, das niemand ihnen folgte. Sie kamen an eine Stahltür, die Noah mit Mühe und Not aufbekam. Im spärrlichen Licht des Ganges und blinkender Lichtanlagen konnte man erkennen, das endlose Stahltreppen nach unten führten. »Hast du auch an Licht gedacht?« lächelte Liam nervös und schaute in die Dunkelheit. Nicht weniger überraschend holte Noah eine Taschenlampe hervor und knipste sie an. »Das müsste reichen, oder?« Die schwere Stahltür wurde wieder geschlossen, ehe sie ihren Weg nach unten fortsetzten. Es ging recht langsam vorran und nur die ersten Meter wurden vor ihnen beleuchtet. Rings herum war alles pechschwarz. Viel sprachen Beide nicht miteiander. Eigentlich schwiegen sie sich sogar an. Nur das gelegentliche Schnaufen von Liam hallte von den Wänden wieder. »Wir müssen ne Pause machen. Die Wunde bringt mich noch fast um.« warf Liam ein. Noah blieb stehen und setzte ihn an der Wand ab. Bisher hatte er kaum ein Wort gesagt, was Liam etwas für Unbehagen sorgte. Noch immer geisterte der Kuss in seinen Gedanken und die Schmerzen wurden auch nicht erträglicher. »Eine Schmerztabelette oder so kannst du nicht herbeizaubern, oder?« fragte er und rutschte etwas die Wand herunter. »Nein.« antwortete Noah kleinlaut. Die Taschenlampe hatte er unten abgestellt, so, das sie die recht niedrige, gewölbte Decke anstrahlte.

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