Ungläubig starrte ich auf die Kulisse vor mir. Sollte es sich dabei um einen Scherz handeln? Benommen blieb ich einen Moment stehen, ehe ich unsanft zur Seite geschoben wurde. »Wenn Sie hier noch lange stehen bleiben, haben Sie hier nichts verloren! Das ist ein Tatort, kein Schaufenster!« Verwirrt schaute ich zur Seite und sah einen Kollegen der Spurensicherung. Ich seufzte leicht. Schon wieder einer, der sich für etwas Besseres hielt... Ich wandte mich wieder dem Zimmer zu und kam erst jetzt dazu, jedes Detail in mich aufzunehmen. Das bizarrste an der ganzen Sache war, und was einen sofort ins Auge fiel, war, das der komplette Raum!, und ich konnte bis dahin nirgends eine freie Stelle finden, überklebt mit weißen Blättern war, auf denen Nachrichten zu schienen sein. Bevor ich mich aber in den Raum wagte, machte ich mich auf die Suche nach ein paar Einweghandschuhen. Ich hatte zwar keine so gute Kleidung an, wie MöchteGern-Tatort-Sicherer, aber über diese Tatsache sah ich hinweg. Erst dann ging ich näher an eine der Wände heran. Wie ich vermutet hatte, handelte es sich dabei tatsächlich um E-Mails. Ehrfurchtig schaute ich mich nochmal im ganzen Raum um. Erst jetzt blieb mein Blick bei der Toten hängen, und zum zweiten Mal an diesem Tag stockte mir der Atem. Das Mädchen, sie konnte kaum älter als ich sein, wohlmöglich war sie sogar noch jünger, lag mit dem Rücken zur Wand. Ihre Pose erinnerte mich an eine Puppe, die etwas zur Seite zu fallen schien. Um sie herum war überall Blut, und ich konnte zunächst gar nicht ausmachen, woher eigentlich. Ich entdeckte, das ihr linker Unterarm aufgeschnitten war. Schmerzlich flammte in mir ein Bild auf, das Valerie zeigte. Eine Gänsehaut durchfuhr mich. Hätte man diesen Mädchen wohlmöglich auch helfen können, indem man sie in eine Heilanstalt steckte? Einen kurzen Augenlick fühlte ich mich schwindlig, und ich hatte das Gefühl, im Geiste wieder von jemanden berührt zu werden. Seid ich mit Liam nach New York gezogen war, hatte ich nie wieder irgendwelche Erfahrungen mit Geistern oder Ähnlichem gehabt. Ich hatte es irgendwann tief im Inneren vergraben und irgendwann nicht mehr daran gedacht. Ich musste mich sogar kurz an der Wand abstützen. »Geht es Ihnen gut? Sie sehen so blass aus...« Eine Frau mittleren Alters, mit langen, aschblonden Haaren schaute mich an. Ich konnte nicht ganz erkennen, von welchem Rang sie war. Aber mit Bestimmtheit war sie netter als der andere Kerl. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon. I-Ich bin nur nicht sooft an Tatorten, wo noch eine Leiche liegt.« Sie nickte verständnissvoll. Doch ich wollte keineswegs Mitleid erregen. Ich war doch hier, um Cheryls Arbeit zu übernehmen. Ich riss mich also zusammen und sah der Frau ernst ins Gesicht. »Können Sie mir sagen, wie die Tote heißt?« Sie schaute etwas irretiert. Scheinbar wollte auch sie es nicht wahrhaben, das ich eigentlich zum Team gehörte. »Ich kann ihn auch gerne meinen Ausweis zeigen....« schlug ich vor, doch sie winkte ab. »Schon gut. Ihr Name ist Holly Diaz. Sie ist neunzehn Jahre alt und allen Anschein handelt es sich hier um Selbstmord.« Ich nickte, aber so ganz konnte ich es nicht glauben. »Gibt es dafür Beweise?« platzte es aus mir heraus, ehe ich zu Ende gedacht hatte. Die Kollegin schaute mich nun wieder irretiert an. »Eindeutiger Beweis ist wohl, was sie sich den Arm aufgeschnitten hat, und dann verblutet ist. Eine andere sichtbare Wunde konnte man bisher nicht entdecken. Aber das wird sich wohl der Gerichtsmediziner genauer anschauen.« Ich nickte. »Kein Problem. Es war einfach nur eine Vermutung. Danke für Ihre Hilfe.«
Mit diesen Worten wandte ich mich ab und beschäftigte mich mehr mit den E-Mails an der Wand. Schon bald konnte ich feststellen, das sie in einen Zeitraum von sieben Monaten verfasst wurden. Und immer wieder war es der gleiche Absender und Empfänger. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dann müssten ein Großteil der E-Mails von Holly stammen. Doch die andere Kontaktperson. Ich las eine der Nachrichten genauer:
Etwas wehmütig musste ich lächeln. Sie hat sich wohl um ihren Freund große Sorgen gemacht. Schon jetzt stellte ich mir die Frage, bei was für ein Problem es sich handeln könnte. Wenn sie schrieb, er bräuchte dringend Hilfe (und ich ging jetzt davon mal aus, das es ihr Freund war), dann konnte es doch eigentlich nur psychischer Natur sein, oder? Bitterlich wurde mir klar, das sich dieser Fall zu sehr den von Cathrin ähnelte. Doch ich konnte noch nicht mit Bestimmtheit sagen, was tatsächlich das Problem war. Ein letztes Mal schaute ich mich um. Gerade verpackte man das Mädchen in einen Leichensack. Ich glaubte, es gab nicht mehr vielzu tun, zumindest für mich. Doch bevor ich ging, wollte ich unbedingt noch ein paar Unterlagen haben. Zuhause würde ich dann in Ruhe über den Fall brüten können. Mein Schuhkarton schien mir dazu gänzlich ungeeignet.
Da ich keinen Führerschein hatte (nach dem Fitnesscenter kam dies gleich auf Platz Zwei), war ich darauf angewiesen, das eine der Kollegen mich wieder zurück zum Hauptgebäude fahren würde. Es war mir etwas unangenehm, jemanden zu fragen. Dadurch fühlte man sich noch nutz- und hilfsloser, als man eigentlich sein wollte. Aber ein Beamter zeigte erbarmen und fuhr mich zurück, mit der Begründung, er müsste sowieso nochmal ins Büro zurück. Ich war froh, als ich ausstieg. Ich bedankte mich höflich und lief hoch in unsere Etage. Es war bereits Nachmittag,und zum Glück hatten sich die Räume etwas geleert. Vielen waren in der Caféteria unterwegs, nur wenige saßen noch an ihren PC´s oder Schreibtischen. Auch an meinen Arbeitsplatz begrüßte mich ein neuer Stapel Papiere. Warum man das alles auf mich abwälzte, blieb mir ein Rätsel. Doch jetzt war keine Cheryl mehr da, die mir das eventuell abnehmen könnte. Ja, die einzige Abwechslung bestand darin, auch mal an Tatorten zu erscheinen. Sonst fressen einem den ganzen Tag die Papiere auf. Meine Unterlagen vom Tatort steckte ich fein säuberlich in einen Umschlag, ehe ich meinen PC hochfuhr, und mich an die Arbeit machte.
Länger als ich eigentlich wollte, kam ich am Abend zu Hause an. Innen begrüßte mich Stille, wobei ich so sehr hoffte, Liam käme schon zurück. Doch es war reines Wunschdenken. Ich musste mich ein weiteres Mal gedulden, bis er zurückkam. Doch darin war ich doch schon fast ein Profi, oder? Ich begann, mir etwas zu kochen, stocherte aber am Ende doch nur lustlos darin herum. Ich fühlte mich in dem Moment unglaublich einsam, und fragte mich zum hundersten Mal, ob das die richige Entscheidung war. Trübsinnig schaltete ich den Fernseher ein, zündete ein paar Kerzen an, um es ansatzweise gemütlich zu machen, und lies den Programschwall über mich prasseln.
Irgendwann fiel mir ein, das ich früh gar nicht die Zeitung gelesen hatte. Unverändert lag sie auf dem Tisch. Nun nahm ich sie mir und verzog mich wieder auf die Couch zurück. Eigentlich war ich kein großer Zeitungsleser. Alles, was auf einem Blatt Papier stand, konnte man genauso gut auch im Internet oder Fernsehen finden. Dennoch erregte ein Artikel über den Vorfall im Vergnügungspark meine Aufmerksamkeit. Es war sogar ein mutmaßliches Foto vom Täter abgebildet. Im schwachen Licht des Fernsehers und der Kerzen konnte ich aber nicht viel erkennen. Ich schaltete das reguläre Licht an und konnte im ersten Moment kaum meinen Augen trauen: Der Täter sah dem Mann aus dem Fahrstuhl zum Verwechseln ähnlich! Betäubt ließ ich die Zeitung auf den Tisch liegen und kugelte mich auf der Couch ein. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und begann, etwas zu zittern. Ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als das Liam bei mir wäre.
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