Nachdem eine Ansage durchgestellt wurde, das der Zug in wenigen Minuten im Bahnhof ankommen würde, packte ich eilig meine Sachen zusammen und ging auf den Gang hinaus. Draussen hatten wohl zich andere Fahrgäste die gleiche Idee. Es wurde demnach ziemlich eng.
Ich kam weder vorwärts noch rückwärts und wurde mit meiner Tasche und Koffer an einen Rücken gepresst. Es war sehr unangenehm, den Schweißgeruch unfreiwillig aufzunehmen. Ich war froh, die frische Bahnhofsluft schnuppern zu können. Mom hatte mir gesagt, Tante Berit würde mich vom
Bahnhof abholen. Suchend schaute ich mich um und erblickte sie wenige Augenblicke am Eingang. Im schnellen Laufschritt ging ich auf sie zu und umarmte sie herzlich. Sie erwiederte meine Geste und drückte mich ebenfalls fest an sich. »Willkommen in Sognefjord.« Ich nickte und löste mich aus ihrer Umarmung.
»Ich freue mich riesig, dich wiederzusehen. Ich bin schon so gespannt darauf, was sich alles seid meinen letzten Besuch verändert hat.« Sie strich mir über meine Schulter. »Dann schlage ich vor, das wir sofort losfahren. Ich war gerade dabei, das Mittagessen zuzubereiten. Du musst großen Hunger haben, oder?«
Ich holte mein Lunchpaket heraus, von dem ich kaum etwas angerührt hatte. »Ja... Mom hat mir zwar das hier mitgegeben, aber davon habe ich nichts gegessen. Ich hätte nichts gegen ein warmes Essen einzuwenden.« Gemeinsam gingen wir zum Auto und fuhren zu ihren Haus. Die Fahrt dauerte noch etwa eine halbe Stunde.
Schon von weitem konnte ich das Haus erkennen, das nach wie vor auf einen Hügel stand. Es sah blasser aus, war aber immer noch riesig groß. »Es sieht genauso aus, wie ich es noch in Erinnerung habe.« erwiederte ich und stieg aus. Mein Blick wanderte über die Landschaft. Ich konnte es kaum erwarten, raus in die Natur zu gehen.
»Nachdem Mittagessen zeige ich dir dann dein Zimmer, ja?« Ich nickte und folgte Tantchen in die Küche. Neugierig schaute ich mich um. Ein Großteil der Möbel war aus Holz, die entweder braun oder weiß lackiert waren.
Vorallem Streifen hatten es ihr wohl angetan. In der Küche war es wunderbar warm. Schnell hatte ich mitbekommen, dass das Wetter hier oben nicht so mild war, wie bei uns. Beim Essen bombadierte ich Tantachen mit vielen Fragen. Ich wollte alles, bis
ins kleinste Detail wissen und vergaß dabei fast das Essen selbst. Sie beantwortete jede meiner Fragen geduldig und hatte Verständniss dafür, das ich so viel wissen wollte. Bevor ich mein Zimmer sah, half ich ihr noch, das Geschirr abzuspülen und folgte ihr dann nach oben.
Mein Blick fiel auf eine große Standuhr in der Ecke, dessen Pendel hin und herschwing. »Ich hoffe, dich wird das Läuten in der Nacht nicht zu sehr stören. Ich bin es bereits seid vielen Jahren gewöhnt.« Sie lachte darüber kurz und blieb an einer Tür stehen. »Das wäre hier dann dein Reich.«
Innen begrüßten mich überwiegend Blau- und weißtöne. Es sah bezaubernd aus. Und das Bett erst! Doppelt so breit wie mein eigenes daheim. Ich wagte es gar nicht, mich daraufzusetzen, aus Angst, die Tagesdecke könnte zerknittern. Freudenstrahlend drehte ich mich nach Tantachen um. »Es sieht wunderschön aus.«
»Dann kannst du in Ruhe deine Sachen auspacken. Ich bin unten in der Küche, wenn etwas sein sollte.« Sie schaute kurz unsicher zur Seite. Ich fing ihren Blick auf und fragte: »Ist noch etwas?« Als sie mich wieder ansah, flackerte in ihren Augen eine seltsame Ernsthaftigkeit. »Wenn du heute nocheinmal raus möchtest, bitte ich dich inständig darum, auf
keinen Fall die Höhle aufzusuchen. Sie ist gefährlich und es sind auch schon Menschen darin umgekommen.« Ich nickte. »Ich weiß doch noch nicht einmal, wo diese Höhle sich befindet.« Tantchens Blick entspannte sich etwas. »Ich möchte nicht, das dir etwas passiert.« »Mache dir keine Sorgen.« lächelte ich. »Ich mag außerdem sowieso keine dunklen Orte.«
Sofort drang sich der Alptraum in mein Gedächtnis, den ich in den letzten Stunden so erfolgreich verdrängt hatte. In mir stieg ein mulmiges Gefühl hoch, wenn ich daran dachte, am Abend einzuschlafen. Ob Tante Berit Schlaftabeletten hatte? Meine Antwort schien sie zu befridiegen und sie ging die Treppe herunter. Ich seufzte etwas und begann, die Sachen aus meinen Koffer zu packen.
Ich schaute aus einen der Fenster und sah, das die Sonne langsam unterging. Nein, heute hatte ich gewiss keine Lust mehr, im Halbdunkeln in der Natur umherzuirren. Ich würde wohl morgen am Vormittag einen kleinen Spaziergang in der näheren Umgebung wagen.
Den Rest des Tages, der mir noch übrig blieb, verbrachte ich damit, das Haus zu erkunden. Ich bemerkte, das sich kaum etwas verändert hatte, soweit ich das noch beurteilen konnte. Wie die Fassadenfarbe hatte vieles vielleicht die Intensität verloren, aber ansonsten sah alles noch so aus, wie sie es in Erinnerung hatte.
Ich inzpizierte jedes Zimmer und nahm alles unter die Lupe, was mir in die Hände fiel. Die Fotos von der Verwandschaft waren am interessantesten. Es gab kaum Farbfotos, viele waren in Schwarz/Weiß oder Serpiatönen gehalten. Die Fotos wurden oft draussen geschossen. Die Umgebung sah auch früher schon faszinierend aus. »Das Abendbrot ist fertig.«
Ich schrak kurz auf und sah Tantchen im Türrahmen stehen. Sie bemerkte, das ich an den unzähligen Fotos hängen geblieben war und erwiederte: »Du wirst bestimmt ein Großteil davon nicht mehr kennen. Aber wenn du magst, kann ich dir deine Mutter in jungen Jahren zeigen.« »Wirklich?« Die Idee entzückte mich. Mom hatte mir noch nie Fotos gezeigt, wo sie in meinem Alter war.
Ich begleitete sie in die Küche, wo wir beisamen aßen. Am Abend saßen wir im Wohnzimmer. Schon bei meiner Erkundungstour hatte ich gesehen, das ein großer Kamin in der Ecke stand. Ich fühlte mich sofort wohl und mochte das Knistern des Feuers. Im Fernsehen lief ein Program, auf dem wir aber kaum achteten. Es gab immer noch so vieles, was ich wissen wollte.
»Was hat es eigentlich mit der Höhle auf sich?« Dieses Thema interssierte mich am meisten, doch scheinbar war Tantachen davon nicht so begeistert. Wie im Zimmer überlegte sie lange, was sie antworten könnte. »Wie ich schon sagte, ist sie sehr gefährlich. Und unerforscht. Keiner weiß so genau, wie weit sie in den Berg geht, geschweige denn eine Wegbeschreibung, wie man wieder herauskommt.«
»Du hast vorhin noch etwas von Menschen erzählt, die darin umgekommen sind.« Neugierig schaute ich sie an, doch sie wich meinen Blick aus. »Nimm es mir nicht übel, aber über das Thema möchte ich nicht sprechen. Es sind unangenheme Erinnerungen.« Ich musste es so hinnehmen, beschloss aber, zu schauen, ob es in der Stadt eine Bibliothek gab. Vielleicht gab es da nähere Infos; ältere Zeitungsartikel oder dergleichen.
Langsam wurde ich müde und ich gähnte. »Da ist wohl jemand müde.« Tante Berit schaute auf die Uhr. »Ich glaube, das ist eine gute Idee. Ich möchte morgen ein bisschen die Umgebung erkunden.« »Denke daran, nicht in die Nähe der Höhle zu gehen.« ermahnte sie mich. Ich nickte und stand auf. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Oben auf der ersten Etage befand sich ein zweites Bad. Es war nicht ganz so groß wie das andere im Erdgeschoss, aber immerhin hatte ich genügend Platz. Ich kämte mir die Haare, wusch mir das Gesicht und putzte die Zähne. Gerade, als ich den Wasserhahn aufdrehte, sah ich abermals, für nur eine Sekunde eine schemenhafte Gestalt im Spiegel.
Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter, so, als würde ich vor einen offnenen Kühlschrank stehen.
Ich kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, und öffnete meine Augen vorsichtig. Weg war es. Mein Puls beschleunigte sich und ich schaute mich im Bad nervös um. Langsam drehte ich den Hahn zu und hörte das letzte Tropfen des Wassers. Mein Hirn ratterte nach einer logischen Erklärung und versuchte mir weißzumachen, das es eine Spiegelung war.
Oder Übermüdung die Ursache war. Schnell klatschte ich mir Wasser ins Gesicht, verzichtete auf das Zähneputzen und verschwand in meinen Zimmer. Ich atmete schwer, als ich die Tür hinter mir zuschloss. Langsam rutschte ich die Tür herunter und starrte für einen Augenblick auf den Boden. Ich begann zu zittern und schlang beide Arme um meinen Körper.
Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. Seid gestern spielte mir meine Fantasie scheinbar mehrere Streiche hintereinander. Und es beunruhigte mich mehr und mehr. Ich begann mich aufzurichten und mich umzuziehen. Auf meiner Haut bildete sich eine Gänsehaut. Ob "es" in meinen Zimmer war? Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen und verharrte bei
dem großen Spiegel, der neben einer Kommode stand. Innerlich wappnete ich mich dafür, jeden Moment eine Gestalt darin zu sehen. Aber nichts dergleichen geschah. Erleichtert stieß ich einen Seuzer aus und kroch in das Bett. Ich zog die Decke bis zum Kinn hoch und schaute in die Dunkelheit. Mein Herz hämmerte schneller und ich tastete nach der kleinen Tischlampe.
Wann bin ich das letzte Mal mit Licht eingeschlafen? Das Licht beruhigte mich etwas und ich probierte es nochmal mit meinen Lieblingsbuch. Es funktionierte tatsächlich etwas, aber beinahe befüchtete ich, das dieser Effekt nicht lange anhalten würde. Irgendwann fielen mir die Augen zu und ich ließ das Buch neben mir sinken.
Langsam öffnete ich die Augen. Ich stellte fest, das ich mich in meinen Zimmer befand, um genauer zu sein, vor dem Eingang meiner Zimmertür. War es schon Morgen?
Ich schaute mich um. Etwas stimmte hier nicht. Die Umgebung hatte einen Grauschleier; ganz gewiss war es nicht am Morgen, wo eigentlich Helligkeit den Flur überfluten sollte.
Automatisch und gegen meinen Willen begann ich, auf die Standuhr zuzulaufen, die stetig tickte. Wie ein Magnet zog sie mich magisch in ihren Bann. Ich blieb davor stehen und schaute minutenlang auf die Ziffern.
Ich legte den Kopf schief und berührte das Scheibenglas mit den Fingernspitzen. Mein Blick klärte sich, als ich etwas zwischen den Zahnrädern entdeckte. Es war golden, hatte die gleiche Farbe wie die Zahnräder und war fast gar nicht zu erkennen.
Ich suchte nach einen Riegel, womit ich die Scheibe aufmachen konnte und wurde schließlich fündig. Ich öffnete diese und wollte nach dem glitzernen Etwas greifen, als es durch meine Finger hindurchglitt. Was passierte hier? Ich trat einen Schritt zurück und sah, das die Welt
um mich zerbröckelte. Es verschwand der Teppich, die Treppe, die Blumen, das Fenster... einfach alles. Vor mir tat sich der Boden auf und ich suchte verzweifelt nach einer Haltemöglichkeit. Doch selbst die Standuhr schien sich aufzulösen. Meine Beine gaben nach und ich fiel in die endlose Schwärze.
Erschrocken riss ich die Augen auf und schaute mich um. Ich lag in meinen Bett, das in meinen Zimmer stand und draussen war es bereits hell. Ich drehte mich zur Uhr um und sah, das es bereits zehn Uhr war. Ich richtete mich auf und dachte über den Traum nach. Schon zum zweiten Mal fühlte er sich schrecklich real an.
Zum Glück kam darin keine eiskalte Hand vor! Ob ich geschlafwandelt habe? Auch das wäre mir vollkommen neu gewesen.
Ich zog mich an, ging in das Bad und wusch mir das Gesicht sowie putzte mir die Zähne. Ich war froh, das es ein Fenster ab, das großzügig das Licht hereinließ.
Es gab glücklicherweise keine weiteren Zwischenfälle, war aber dennoch negierig, warum die Standuhr in meinen Traum vorkam. Ich wollte gerade in mein Zimmer gehen, als ich mich umdrehte, um zu schauen, ob sie an ihren Platz stand.
Natürlich tat sie das! Wenn ich tatsächlich geschlafwandelt habe, hätte ich wohl kaum die Standuhr verrücken können. Ich ging langsam auf ihr zu und betrachtete die Ziffern. Meine Augen weiteten sich, als ich hinter dem Glas etwas erkennen konnte, das leicht vor sich hinbaummelte.
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