Sonntag, 19. August 2012

Kapitel 21

Langsam öffnete ich die Autotür und stieg hinein. Die furchterregende Erscheinung war fast vergessen; viel mehr interssierten mich jetzt die Tagebucheinträge. »Glaubst du, das Valerie die Mörderin ist?« fragte ich und schaute Liam ernst an. Er steckte gerade den Schlüssel ins Zündschloss, als er inne hielt. »Eher weniger. Ich würde es ihr nicht zutrauen.« »Und wenn sie von Schuldgefühlen zerfressen, in der Anstalt gelandet ist?« Liam runzelte die Stirn. »Reine Spekulationen. Sie wollte sich umbringen, weil ihre Schwester tot war. Wenn du es wirklich wissen willst, kannst du sie ja gerne besuchen. Ich wette, sie freut sich wahnsinnig, dich zu sehen.« Dabei verdrehte er die Augen. »Schon gut, schon gut.« antwortete ich schnell. »War ja nur eine Vermutung von mir.« Um ihn nicht zu verärgern, lenkte ich ein anderes Thema ein. »Wo liegt eigentlich der Friedhof? Ich habe gehört, das er hier in der Nähe sein soll.« Liam nickte. »Allerdings. Willst du dahin?« Ich nickte und schwieg. Mir kam abermals ein verrückter Gedanke: Mit dem Geist Vincents kommunizieren. Aaron hatte ja gesagt, das man manchmal den Geist von ihm auf den Friedhof sehen würde. Wenn es bei Cathrin klappte, sollte es doch auch bei ihm funktionieren, oder?

Der Friedhof lag nur ein paar hundert Meter vom Haus entfernt. Wir hielten vor einen Bach, dessen steinige Brücke beinahe ins Wasser stieß. Es war still um uns, als wir ausstiegen. Nur der Wind streifte durch die Blätter. Durch die Büsche, die zu dieser Jahreszeit keine Blätter mehr trugen, konnte ich einzelne Grabsteine erspähen. Es war kein großer Friedhof, als wir näher herantraten. Ich schätzte die grobe Gräberanzahl auf zwanzig Stück, inklusive einer kleinen Kapelle und einem Mausoleum. »Zeigst du mir, wo das Grab von Vincent ist?« bat ich Liam. Dieser schaute mich verwirrt an. »Was hast du vor?« Ich lächelte geheimnissvoll. »Das wirst du gleich sehen.« Ich folgte ihm, schaute mich aber unterwegs immer wieder um. »Da wären wir.« Liam blieb vor einen einfachen Grabstein stehen. Nur das Grabgesteck vermittelte einen kleinen Farbtupfer. Ich ging in die Knie, um mir die Schrift besser anschauen zu können. Liam blieb in seiner Position, schaute aber dennoch interssiert herunter. Vorsichtig strich ich über das Relief und schloss die Augen. Ich verharrte in dieser Position, ehe ich meine Augen öffnete, und wie erhofft, Vincent sah. Für einen kurzen Augenblick hatte ich ein Ungeheuer im Sinn, doch die Gestalt, nur wenige Meter vor mir, sah überhaubt nicht furchterregend aus. Es war Vincent, so wie auf dem Foto. Er schaute mich wieder mit ausdrucksloser Miene an, doch ich lächelte. »Ich werde dir Cathrin zurückbringen.« flüsterte ich. Dabei blendete ich die Tatsache aus, das ich wohlmöglich Selbstgespräche führte. Zumindest sah es so für Liam aus. Oder konnte er auch Geister sehen? Vincent erwiederte nichts darauf, schaute einfach nur geradeaus. »Ist dir klar, das du dich mit einen Grabstein unterhälst?« riss mich Liam aus meinen Gedanken. Ok, er konnte also scheinbar keine Geister sehen. Ich schaute ihn etwas verwirrt an, in seinen Augen stand Belustigung. Hastig stand ich auf. »Das ist nicht witzig.« rief ich. Er hob eine Augenbraue. »Lache ich etwa?« fragte er. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie nah wir uns eigentich standen, bis er plötzlich mein Kinn leicht anhob. Natürlich wurde ich puterrot, hatte aber keine Möglichkeit, in eine andere Richtung auszuweichen. Gezwungernermaßen sah ich ich ihm in die Augen. Auf seinen Gesicht breitete sich ein kleines Lächeln aus. Und dann passierte es, ganz sanft und ohne Vorwarnung. Nie hätte ich mir ausgemalt, einen Kuss auf einen Friedhof zu erhalten. Er schmeckte voller Süße, weckte aber auch Sehnsüchte und gleichzeitig Furcht.

Zurück im Auto sagte niemand etwas von uns beiden. So langsam wurden unsere Schweigerunden richtig populär. Ich wollte ihn keineswegs wegen dem Kuss irgendwie überfallen und fragen, was das sollte. Es prickelte immer noch in mir und ich stellte mir zehntausend Mal die gleiche Szene vor. »W-Wer liegt eigentlich im Mausoleum beim Friedhof begraben?« fragte ich während kleinlaut. Die Stille, abgesehen von der üblichen Geräuschkulisse, hielt ich nicht mehr aus. »Valeries und Cathrins Eltern.« kam es überraschend schnell von ihm. Ich stellte ihn dazu keine weiteren Fragen. Wir hielten vor Tantchens Haus. Ich stieg aus und wollte etwas erwiedern. Doch irgendwie schaffte ich es nicht, ansatzweise irgendwelche Worte herauszubringen. In mir tobte ein wahres Gefühlschaos, das mich beinahe lähmte. Schlußendlich brachte ich ein leies »Tschüss« zustande und hob zum Abschied meine Hand.

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