Ich rannte die Straße entlang zur nächsten Bushaltestelle. Draussen war es nach wie vor eiskalt, doch als ich ankam, war mir mehr als warm. Garantiert hätte ich in Sport die Bestnote bekommen, hätte mich mein Sportlehrer gesehen.
Zwischen Tantchens Haus und meinen Ziel lagen nicht mehr als fünf Minuten Rennzeit. Als sich mein Atem langsam beruhigte, schaute ich auf den Busfahrplan. Zu meiner Erleichterung konnte ich feststellen, das tatsächlich ein Bus in diese Richtung fuhr.
Allerdings erst in einer Stunde! Ich schaute mich von allen Seiten um und sah, das ich die einzige Person war, die heute vorhatte, noch mit den Bus irgendwo hinzufahren. Ein Seufzer entglitt meiner Lippen. Zum Glück gab es eine Bank hier draussen, doch kalt war es trotzdem.
Hoffentlich übersieht mich der Busfahrer nicht, wenn ich zum Eisklumpen erfrorern bin... dachte ich mir und vergrub meinen Gesicht im hohen Halsauschnitt meiner Jacke.
Ich versank in meinen Gedanken und wunderte mich etwas, seid wann ich so grüblerisch geworden war. Lag es an diesem Ort? Oder einfach daran, das mich dieser Mordfall nicht losließ?
So sehr hoffte ich, das die Seele Cathrins ihren Frieden fand. Der kalte Wind wehte mir durch meine Haare und ließ mich etwas erzittern. Ehe ich mich versah, tauchte der Bus am Horizont aus. Erleichtert und völlig durchgefroreren; meine Zehenspitzen spürte ich nicht mehr, stieg ich in den Bus, bezahlte und ließ mich auf
einen Fensterplatz nieder. Ich rieb mir meine Hände etwas warm und schaute aus dem Fenster. Mir ging die Szene mit dem Schuss im Kino durch den Kopf. Wer hatte nur Interesse daran, mich zu töten? Wollte mich etwa jemand daran hindern, weiterzuforschen? Oder war es einfach nur ein dummer Scherz?
Die Fahrt mit dem Bus dauerte wesentlich länger, als wo wir mit dem Auto hingefahren waren. Ein weiteres Problem zeigte sich, als der Bus unmittelbar gegenüber des Schildes anhielt. Ich hatte also wohl oder
übel noch einen Fußmarsch vor mir. Wäre diese Kälte nur nicht. Dann wäre alles etwas einfacher. Meine Jacke fester um mich gezogen, ging ich los. Mit der Hoffnung, Liam anzutreffen. Mein Verstand sagte mir, er war es. Aber mein Herz?
Das war anderer Meinung. Zumindest vermutete ich das. Da war etwas, was ich sonst nicht empfand. Endlich kam ich an, mal wieder halb durchgefroreren, und betete, das die Besucherzeiten noch nicht zuende waren. Das Gebäude war auch in der Dämmerung nach wie vor atemberaubend.
Abermals ehrfürchtig bestieg ich die Treppen, drückte langsam die Türklinke herunter und trat hinein. Ich war wieder die Einzige und ging den Gang entlang. Auch wenn das Gefühl beim ersten Mal viel schlimmer war, es würde gleich jemand von hinten einen anspringen, konnte ich es
beim zweiten Mal nicht ganz abschütteln. Ich klopfte an die Tür des Büros und trat hinein. »Miss Sullivan! Was für eine Überraschung Sie hier zu sehen! Haben Sie Mister Delling gar nicht mitgebracht?« Es war die gleiche Frau wie vor ein paar Tagen. Erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, ihren Namen zu erfahren:
Sebilla Hilfrid, stand vorne auf einen kleinen Metallschild. »G-Guten Tag. Ich dachte, er wäre hier bei Ihnen, weil...« Ich musste mir schnell eine plausible Erklärung überlegen. »... weil ich ihn suche. Ist er hier?« Mrs. Hilfrid schüttelte den Kopf. »Nein. Da muss ich Sie entäuschen. Aber warum suchen Sie ausgerechnet hier nach ihm?«
Ich trat nervös von einen Bein aufs andere. »I-ich dachte, er wäre hier vielleicht bei Valerie. W-Weil sie sich so gut verstehen...« Mrs. Hilfrid nickte. »Das mag stimmen, aber die Besucherzeiten sind fast vorbei.« Ich trat näher an den Schreibtisch heran. »Wäre es möglich, wenn ich einen kurzen Augenblick mit Valerie reden könnte? V-Vielleicht weiß sie ja, wo Liam ist...«
Die Frau schaute mich mit einen betauernden Blick an. »Ich fürchte, das dürfte schwierig werden...« setzte sie an. Doch ich blieb hartnäckig. »Könnten Sie bitte eine Ausnahme machen? Es ist wirklich nur eine Minute! Danach bin ich sofort wieder verschwunden.« Flehend schaute ich sie an. Schließlich sank die Frau leicht in sich zusammen und nickte.
»Aber bitte beeilen Sie sich. Es gibt dann gleich Abendbrot.« Aus Dankbarkeit verneigte ich mich kurz und rannte förmlich aus dem Zimmer.
Den Weg zu Valeries Zimmer hatte ich genau im Kopf. Mein Orientierungssinn ließ mich selbst hier nicht in Stich. Die Einrichtung ließ mich wieder erstaunen und gleichzeitig erschaudern.
Als ich an ihrer Tür ankam, spähte ich vorsichtig durch das kleine Fenster in der Tür. Valerie war noch da und saß am Tisch. Ich klopfte kurz an und trat hinein. Ich blie am Eingang stehen, doch
Valerie sah mich nicht an. Jetzt sah ich, das sie in einer Zeitschrift lies. »H-Hi Valerie.« begrüßte ich sie und trat einen Schritt näher. Unsere erste Begegnung war alles andere als angenehm, doch ich verdrängte das Erlebniss.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf ein Gespräch mit ihr. »Ich bin es, Laurie.« sprach ich weiter. »Liam hat mich dir Letztens vorgestellt. Kannst du dich erinnern?« Ich blieb stehen und wartete, was passierte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hob Valerie ihren Kopf und drehte ihn langsam in meine Richtung. Auch ihre stechendroten Augen waren für einen kurzen Moment angsteinflößend. »Habe ich dich etwa nicht verschreckt?« begann sie und ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen.
Es war allerdings kein freundliches Lächeln. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin auf der Suche nach Liam. War er hier?« Valerie wendete sich wieder ihrer Zeitschrift zu. Allerdings beachtete sie die Blütenspitzen der Blumen, die auf ihren Tisch standen. Mit einer Fingerspitze berührte sie eine.
»Blüten sind genauso vergänglich wie Freundschaften. Glaubst du allen Ernstes, er war hier um mich zu sehen?« Mit Gewalt riss sie an einer Blüte und ließ sie achtlos auf die Tischplatte niedersinken.
»A-Aber ich glaube, er mag dich.« Auch wenn ich das ehrlich gesagt, nicht gerne zugab. Ihr Ausdruck verhärtete sich. »Ach ja?« rief sie gereizt. »Woher willst du das wissen? Hast du ihn gefragt?« Ihre Hand ballte sich zur Faust.
Unaufällig ging ich einen Schritt zurück. Diesmal war Liam nicht zur Stelle... »Spare dir dein Mitleid! Du bist auch nicht anders als die Anderen, die glauben, nur weil sie eine vermeindlich Verrückte vor sich haben, mit ihr machen können, was sie wollen!«
Valerie stand auf und ich erwartete, sie würde sich wieder auf mich stürzen. »Du hast ja keine Ahung, wie man sich hier fühlt! Man hat mir alles genommen, was mir wichtig ist! Und jetzt bin ich hier gelandet! Lass mich also einfach in Ruhe und Verschwinde!«
Ihre Stimme wurde so laut, das ich glaubte, einen Pfleger zu hören. Sekundenspäter riss tatsächlich ein Mann mittleren Alters die Tür auf und ging, ohne auf mich zu achten, auf Valerie zu. Er drückte sie herunter auf den Stuhl, was ihm ohne Mühe gelang, da sie sich nicht zu Wehr setzte.
»Nehmen Sie ihre Tabletten!« wies er sie an, in einen Ton, der alles andere als freundlich war. Es wirkte eher wie ein Befehl. Leicht zitternd zog Valerie eine Schublade ihres Nachtschränckchens auf und zog eine Medikamentenbox hervor. Von dessen Inhalt nahm sie gleich mehrere.
»Wir werden Sie verlegen, wenn es nicht besser wird!« drohte er ihr, schaute einen Moment auf sie herunter und ging dann wieder Richtung Tür. Jetzt erst schien er mich zu merken, denn er bleib unmittelbar neben mir stehen. »Und Sie sollten jetzt besser gehen! Die Besucherzeit ist längst vorrüber!«
Ich wollte die Geduld des Pflegers keineswegs ausreizen, doch kam mir die Frage, was es mit Cathrin auf sich hatte. »V-Valerie!« rief ich. ich sah, das ihr Blick langsam glasig wurde. Mein Gott wirkten die Tablatten schnell... »War es Mord an Cathrin?« schrie ich beinahe. »Gehen Sie jetzt!« wies der Pfleger mich an.
Ich hatte keine Zweifel, das er mich hier mit Gewalt rausziehen würde. »Antworte mir!« rief ich weiter. Doch ich sah, das sie mich gar nicht mehr wahrnahm. Und Augenblicke spärer machte er meine Befürchtung war, indem er mich, zwar nicht gewaltsam, aber dennoch bestimmend, mit nach draussen nahm.
Einen Moment konnte ich noch das Gesicht von Valerie sehen. Sie wollte laut sprechen, bemühte sich förmlich, doch mehr als ein wispern kam nicht heraus. Ich glaubte zu erkennen, das sie meine Frage bejahte.
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