Ich war hellauf begeistert, als ich erfuhr, das ich nach vielen Jahren endlich wieder meine Tante in Sognefjord besuchen konnte.
Ein kleines Städtchen, das über 400km von Oslo entfernt war. Es war eine lange Reise dahin; aber sechs Stunden Zugfahrt ließen mich davon nicht abbringen, sie zu besuchen.
Als ich davon erfuhr, kam ich gerade von der Schule heim. Schon im Flur roch es köstlich nach Mittagessen, und ich hatte großen Hunger! Das Essen in der Caféteria war oft ungenießbar.
Doch ändern wollten sie auch nichts daran. »Ich bin wieder da.« Ich zog meine Schuhe aus, warf die Tasche in die nächstbeste Ecke und trat in die Küche. Mom schaute kurz auf und lächelte mich an, ehe
sie sich wieder dem Essen zuwandt. Ich schnappte mir ein Glas und trank zunächst etwas, ehe ich mich auf einen Stuhl sinken ließ. »Wie war dein Schultag?« erkundigte sie sich.
»Gut.« erwiederte ich und nippte an meinen Glas. »Bald stehen die Abschlussprüfungen bevor.« Mom drehte sich um. »Hast du dafür auch genug gelernt?« Ich nickte. »Natürlich.« »Dann bin ich ja beruhigt.«
Sie drehte sich wieder dem Essen zu. »Übrigens habe ich eine Nachricht von deiner Tante erhalten.« Ich horchte auf. »Sie hat heute Vormittag angerufen und gefragt, ob du nicht Lust hättest, sie zu besuchen?
Die Ferien fangen an und es wäre doch eine gute Abwechslung, mal aus der Großstadt zu kommen.« Da stimmte ich ihr voll und ganz zu! Vor Freude sprang ich vom Stuhl auf und nahm den Vorschlag natürlich an.
»Und ob ich da hin will! Ich kann es kaum erwarten, Tante Berit wiederzusehen. Wieviel Jahre sind das jetzt...?« Ich überlegte, doch Mom kam mir zuvor: »Es wären jetzt circa sieben Jahre.«
»So lange?« Darüber staunte ich nicht schlecht. »Warum hat sie mich denn niht schon früher eingeladen?« Meine Mom zuckte mit den Schultern. »Es sind immerhin über sechs Stunden Zugfahrt.«
»Das macht mir nichts aus. Kyah... Ich kann es kaum erwarten, bis es losgeht. Am besten packe ich gleich meinen Koffer.« »Das Essen ist gleich fertig. Sei also nicht zu voreilig.« ermahnte sie mich. Doch ich war schon längst
in meinen Zimmer verschwunden, um nach meinen großen Koffer zu suchen. Ich hatte schon lange keine Reise mehr unternommen; demnach wusste ich nicht, wo sich der Koffer eigentlich befand. Ich schaute in jede Ecke, im Schrank und schließlich
unter dem Bett, wo er etwas eingestaubt vor sich herumlag.
Am Tisch konnte ich mich kaum auf das Essen konzentrieren. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Da gab es so viel, was ich von Tante Berit erfahren wollte. »Ist Dad noch gar nicht da?« Ich schaute auf die Uhr. Normalerweise war er um diese Zeit immer daheim.
Nancy Sullivan schüttelte den Kopf. »Er hat angerufen und gemeint, heute würde es etwas später werden. Aber mache dir darum keine Sorgen.« Sorglos nahm ich wieder einen Bissen meines Mittagessens und malte mir weiterhin aus, wie es in Sognefjord war. Was hatte sich wohl verändert?
Wohnte Tante Berit immer noch in diesem riesigen Haus auf einen Hügel? Früher als ich klein war, ging ich mit meinen Onkel oft in die Natur um Tiere zu beobachten. Noch heute habe ich einen sehr guten Orientierungssinn.
Nach dem Essen machte ich da weiter, wo ich aufgehört hatte und packte mir meine Sachen ein. Neben Klamotten hatten sich auch einige Bücher darin verirrt. Einen Laptop besaß ich nicht. Und um ehrlich zu sein, brauchte ich auch gar keinen.
»Du hast da noch etwas vergessen.« Wohlwissend stand meine Mom im Türrahmen und hielt ein Heft in die Höhe. Ich stöhnte. »Lass das bitte nicht dein Ernst sein.« Sie ging zu mir herüber und legte es in den Koffer. Um was es sich dabei handelte? Ein Notenheft.
Noch nicht mal bei meiner Tante wurde ich verschont, Klavier zu üben. »Übe jeden Tag fleißig, ja?« erriet sie meine Gedanken. »Ich werde das kontrollieren, indem ich jeden Tag anrufen werde.« Typisch Mom... der Klavierunterricht von mir war ihr heilig. »Ich verspreche es.« erwiederte ich schnell und
zog den Reißverschluss zu. »Ich werde dann noch schnell zum Bahnhof gehen, um mir das Zugticket zu kaufen.« verkündete ich und zog meine Jacke und Schuhe an.
Der Himmel war wolkenverhangen, konnte man allerdings den einen oder anderen Sonnenstrahl erhaschen. Das Wetter war mild und bald würde es noch wärmer werden.
Der Weg zum Bahnhof war nicht weit. Nur eine Station mit der Straßenbahn fahren und schon stand man direkt vor dem großen Gebäude. Innen herrschte reger Betrieb. Schon von weitem konnte ich eine große Schlange am Schalter sehen.
Ich seufzte etwas. Hoffentlich würde es nich allzulange dauern. Brav stellte ich mich an und schaute mich genauer um. Fremde Menschen standen in der Gegend herum, andere saßen auf Bänken oder studierten den Fahrplan, der als eine große Anzeigetafel dargestellt war.
Auch hier roch es verfüherisch nach Gebäck, vermischt mit den Frittierfett der Fastfoodrestaurants. Vor mir standen noch drei Leute. Un da!; für einen Bruchteil einer Sekunde nahm ich einen schemenhaften Schatten am Ende der Wand wahr. Ich kniff die Augen zusammen und "es" war verschwunden.
Alles nur Einbildung? Ich tat es mit einen Kopfschütteln ab und sagte mir, ich sei schon ganz wirr vor Freude. Oder die ganzen Eindrücke hatten mir das Gehirn vernebelt. Doch tief im Inneren wusste ich, das mich die Sache nicht mehr loslassen würde. Das Hochgefühl über den morgigen Tag trat
in den Hintergrund, und ich grübelte darüber nach, was das gerade eben war. Ich war so in Gedanken versunken, das ich gar nicht merkte, das ich die Nächste war. Die Dame am Schalter schaute mich etwas missbilligend an. Wohlmöglich glaubte sie, ich sei einer dieser Tagträumerinnen. Nur zu gern hätte ich
es als Tagtraum abgetan! »Ich möchte ein Ticket nach Sognefjord.« bat ich. Die Dame schaute auf ihren Bildschirm und druckte wenige Sekunden später mehrere Zettel aus. Diese faltete sie und steckte sie in einen Umschlag. Ich bezahlte und ging mit hastigen Schritten nach draussen.
Erst da bemerkte ich, das mir eiskalt war. Ich zog meine Jacke fester an mich, doch es half nicht viel. Ein kalter Schauer begleitete mich bis nach Hause. Erst als ich die Wohnung betrat, kehrte ein Gefühl der Ausgeglichenheit zurück. Für einen Moment zog ich beinahe meinen Vorschlag, Tante Berit zu besuchen, zurück.
Ich suchte nach einer weiteren logischen Erklärung. Vielleicht kündigte sich eine leichte Erkältung an! Ja genau; das musste es sein!
»Wieviel hast du für das Ticket gezahlt?« fragte mich Mom und kam aus dem Wohnzimmer. Einen kurzen Blick konnte ich das Bein meines Dads erhaschen. Ich ging mit ihr ins Zimmer zurück und setzte mich auf einen der Stühle vom Esstisch. Im Fernsehen kamen gerade Nachrichten.
»Hi Dad!« begrüßte ich ihn, was er mit einen freundlichen Nicken wahrnahm, ehe er sich wieder dem Fernsehapparat zuwandt. »Mein ganzen Taschengeld hat dieses verdammte Zugticket gekostet.« jamerte ich und hoffte, noch etwas Geld von meinen Eltern zu bekommen. »Könnt ihr micht noch etwas geben?«
Hoffnungsvoll schaute ich Mom an, die einen Blick ihren Mann zuwarf. Er wusste genau, was jetzt kam und ließ sich schon gar nicht mehr auf Disskusionen mit mir ein. Schon im Geiste hatte ich mir passende Argumente zugelegt, um meinen Willen zu bekommen.
»Wieviel brauchst du denn? Mom hat mir von deinen Ausflug zu Tante Berit erzählt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht viel.« Wobei Viel ein relatives Wort war... Letztendlich konnte ich mich über siebenhundert Kronen freuen (was ca. Einundneunzig Euro waren).
Ich umarmte meinen Dad, merkte aber, das er das Fernsehprogram als wichtiger empfand. Ich ging in mein Zimmer,um nochmal in aller Ruhe alles durchzugehen, was ich eingepackt hatte, damit ich nichts vergaß.
Zum Erstaunen meiner Eltern ging ich an diesem Abend zeitig ins Bett. Morgen, um sieben Uhr würde es sogleich losgehen. Ich merkte schnell, das mein Plan, schnell eizuschlafen, um am nächsten Morgen rechtzeitig aus dem Bett zu kommen, nicht klappte.
Ich lag noch Stunden lang wach und überlegte die ganze Zeit, was für ein rätselhafter Schatten das im Bahnhof war.
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