Mittwoch, 22. August 2012

Kapitel 35

Das Handy war ziemlich neu, doch ich hatte kaum Zeit, dem hinterherzutrauern. Ein Selbstverteidigungskurs belegt zu hätten, wäre von Vorteil. Mit aller Macht, die mir zur Verfügung stand, ohne gleich in Panik oder Ohnmacht zu fallen, schlug und kratzte ich auf meinen Angreifer ein. Plötzlich merkte, wie der Griff um meine Taille gelockert wurde, ja beinahe sanft war. Und auch die Hand nahm diejenige Person weg. Mein Atem stockte, denn gerade in dem Moment kamen wieder die Szenen mit Aaron hoch, die mir heftige Übelkeit verursachte. »Tut mir Leid.« hauchte die Person, die ich eindeutig als männlich identifizieren konnte. Da mein Mund staubtrocken war, brachte ich nur ein ersticktes Krächzen zustande. Ich wollte hier weg. Und das schnell! Ich kam dazu, mich umzudrehen, und im schummrigen Licht der Gasse konnte ich vertraute Gesichtszüge erkennen! »Was zum...!?« Im ersten Moment glaubte ich, das sei alles nur Einbildung, ein Trugschluß, den sich mein Gehirn zusammengesponnen hat, damit die Lage nicht ganz so aussichtslos war. Doch im nächsten Moment konnte ich es nicht mehr leugnen. Es war niemand anderes als die Person, die mich schon seid Tagen stalkte... naja... oder sozusagen da auftauchte, wo ich war. »SIND SIE EIGENTLICH VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN!?« schrie ich ihn beinahe etwas zu laut an, doch er nahm mühelos meine beiden Arme und drückte mich gegen die Steinmauer. Mein Herz begann schneller zu klopfen und mein Atem ging stoßweise. Er sah mich mit einen wissbegierigen Blick an, so, als wäre ich für ihn das Faszinierenste auf der Welt. »Wer zum Teufel sind Sie?« flüsterte ich und schaute auf den Boden. Ich wollte mich nicht in diesen Augen verlieren, die anders waren. Der Typ blieb noch einen Moment unbeweglich stehen, und ich wollte meine Frage nochmals wiederholen, als er mir samtartig antwortete, was mir einen Schauer über den Rücken liefen ließ: »Ich bin da, um auf Sie aufzupassen. Jetzt, wo Sie niemanden mehr haben.« Was sollte das heißen? Verwirrt schaute ich ihn an. Hatte das etwas mit Liam zu tun? »Was wollen Sie mir damit sagen?« fragte ich ängstlich und war auf das Schlimmste vorbereitet. Es verursachte nochmals heftige Übelkeit in mir, wenn ich daran dachte, Liam könnte ... Er lächelte. Aber war nicht grausam, sondern sollte irgendwie beruhigen? »Nennen Sie mich Nathan. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen. Dafür entschuldige ich mich in aller Form bei Ihnen.« Er wendete sich von mir ab und trat ein paar Schritte zurück. »Eine komische Art haben Sie, sich mir vorzustellen.« murmelte ich vor mich hin. Ich wollte aus der Gasse heraustreten, und bekam überraschenderweise keinen Widerstand. Da, auf dem Gehweg konnte ich mein Handy entdecken, das jetzt natürlich schrottreif war. Ich drehte mich um, mit einen leicht säuerlichen Grinsen: »Das Handy können Sie mir übrigens ersetzen; Nathan!«

Daheim angekommen, konnte ich Liam erstmal erklären, der mir versucht hatte, mindestens zehn Mal auf dem regulären Festnetz zu erreichen, warum ich denn urplötzlich weg vom Handy war; sprichwörtlich. Ich ließ mir eine plausible Ausrede einfallen, die daraus bestand, das ich ganz schnell die letzte Straßenbahn erreichen müsste. Und während man rannte, war es schlecht, ein Telefonat zu führen; meiner Meinung nach. Ob Liam sie mir abnahm, konnte ich nur schwer einschätzen, doch bei der Verabschiedung klang er eh und je sehr zärtlich. Nachdem ich aufgelegt hatte, bekam ich wieder schlechte Gewissensbisse, das ich mich vor knapp einer Stunde noch in der Gasse mit einen fast fremden Mann gestanden hatte. Es war schwer zu beschreiben, was da in mir vorging. Auf der einen Seite wünscht man sich sehnlichst Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, die man auf der anderen Seite momentan nicht kriegen kann. Ich seufzte etwas und ging in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Danach fuhr ich meinen Laptop hoch um mich mit meinen Account auf meine Arbeitsstelle einzuloggen. Es war äußert praktisch, auch mal von zu Hause aus, zu arbeiten. Inständig hoffte ich, das nun Kopien von den E-Mails vorlagen, damit ich mir diese ausdrucken konnte, und vielleicht auch schon entschlüsseln könnte. Nebenbei ließ ich den Fernseher laufen, der üblicherweise Nachrichten zeigte. Dabei ließ mich eine Meldung besonders aufhorchen. Sie hatte mit der Schießerei vor knapp einer halben Woche zu tun. »...durch das langsame Vorgehen der Polizei ist der mutmaßliche Attentäter untergetaucht. Ein Sondereinsatzkommando ist auf der Suche nach ihm und setzt alles daran, ihn für seine Taten vor Gericht zu verantworten...« verkündete die Nachrichtensprecherin. Es beunruhigte mich etwas, zu wissen, das der Täter immer noch nicht geschnappt war. Doch das würde wohl ein anderes Team übernehmen. Als ich die Datenbanken durchsuchte, wurde ich schließlich fündig und sah tatsächlich einen Ordner, der die Mails vom Tatort enthielt. Ich verbrachte eine geschlagene Stunde damit, alle Mails auszudrucken, und das war gerade nicht wenig! Aus platzsparenden Gründen bedruckte ich einige Blätter beiderseits, doch letztendlich kam ich auf stolze hundertsiebenunddreißig Blätter. Es war bereits Abends, und ich hatte keine große Lust mehr, mich durch die ganzen Mails durchzukämpfen. Stattdessen überflog ich einige flüchtig und stieß dabei auf eine interessante Internetseite, die sich als Chat herausstellte, nachdem ich die Adresse in den Browser eingetippt hatte. Scheinbar hatten sich beide hier kennengelernt. Für mich war unvorstellbar, eine Beziehung im Internet zu führen. Zärtlichkeiten bestanden dann wohl aus Pixel. Mir kam der Gedanke, mich ebenfalls in den Chat anzumelden, um vielleicht so die Möglichkeit zu haben, den Mörder kennenzulernen um ihn zu stellen.

Die Anmeldung auf der Seite stellte kein Problem da. Im Grunde genommen könnte sich jede Sechsjährige da anmelden, da es keine bestimmten Alterskontrollen gab. Anfangs hatte ich es mir noch leicht vorgestellt, diejenige Person zu finden, mit dem Holly gechattet hatte. Schließlich war der Nickname zu Beginn der Mails noch aufgeführt. Doch der Chat war riesig und bestand nicht nur aus einem Channel, sondern mehrere. Wie sollte ich da nur die richtige Person finden? Während ich nachgrübelte und angestrengt auf den Bildschirm starrte, schrieb mich auch sofort ein Chatteilnehmer an:

Hi :) Na, bist du neu hier?
Hi ;) Freut mich, dich kennenzulernen. Ich habe mich gerade erst angemeldet und kenne von daher noch nicht so viele Leute.
Hört sich doch gut an. Dann hast du hiermit glaub ich deine erste Bekanntschaft kennengelernt.
Ja? Mit wem habe ich es denn zu tun? :D
Das wird nich verraten ;D Noch nicht. Wir können uns ja mal treffen, wenn du magst?
Ohne, das ich ich weiß, mit wem ich es tun habe? Da bin ich mir nicht so ganz sicher.
Wir können ja erstmal telefonieren. Ich kann dir gerne meine Nummer geben. Was hälst du davon?
Ich muss ehrlich gestehen, das mein Hany heute kaputt gegangen ist...
Im Ernst? Wie ist denn das passiert? :D
Eine längere Story... Aber ich würde mich ersteinmal ausloggen. Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich wieder eins zu Verfügung habe, ja?
Alles klar :D Man sieht sich!

Ich hatte nicht große Hoffnungen, sofort DEN Glückstreffer gelandet zu haben. Dennoch hoffte ich, durch ihn vielleicht an den ominösen The NightMARE ranzukommen. Bei dem Nickname fragte ich mich allerdings, was Holly an so einen Typen fand. Denn der Name klang alles andere als romantisch. Im Ernst der Lage sogar sehr gefährlich...

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