Mittwoch, 12. September 2012

Kapitel 56

Noch am gleichen Nachmittag beschloss Liam, den Termin wahrzunehmen. Während Faith im Wohnzimmer saß und nebensächlich den Fernseher liefen ließ, zog sich Liam nochmals um. Das der Anrufer nicht wichtig war, ensprach nur der Halbwahrheit. Er wusste genau, wer drann war, und innerlich kochte er bereits vor Wut. »Gehst du heute noch hin?« fragte Faith spielend unwissend und schaute ihn flehend an. Doch Liam wich ihrer Blicke aus, konzentrierte sich stattdessen darauf, ob der Kragen seines Shirts richtig saß, was eigentlich völlig überflüssig war. Er ignorierte sie schlichtweg einfach. Mit einen flüchtigen Kuss auf den Mund verabschiedete sich Liam von ihr und ging nach draussen. Wie lange er fortbleiben würde, verriet er ihr nicht.

Sein Weg führte ihn quer durch die Stadt. Und der Anrufer war niemand Geringeres als der Vorgesetzte von Laurie. Am Handy hatte er kurz angebunden erklärt, das Liam irgendwelche Unterlagen abholen konnte. Um was es sich dabei genau handelte, wusste er selbst nicht. Bilder aus seinen Alpträumen schlugen ihn wieder entgegen, wie alle anderen Beteiligten unschlüssig dastanden. Wahrhaftig hätte er sie alle den Hals umdrehen können. Das hohe, gläserne Gebäude sah unverändert aus. Nur die Sonne mochte sich in den blankgeputzten Fensterscheiben spiegeln. Ob ihn jemand beim betreten des Gebäudes erkannte, war ihm egal. Seine Aufmerksamkeit galt nur dem Fahrstuhl und dessen ganz bestimmten Stockwerk. Er war froh, das niemand sonst nach Oben fahren wollte. So hatte er die paar Quadratzentimeter ganz für sich allein. Nervös trommelte er mit den Fingern auf das Geländer ein, während er unter sich die Straßen New Yorks beobachten konnte. Endlich war Liam an seinen Ziel angelangt und mit zielbewussten Schritten steuerte er eine gewisse Tür an. Beinahe hätte er vergessen, zu klopfen, um wenigstens ein Fünkchen Anstand zu zeigen. Auf eine Reaktion des Insassen wartete er erst gar nicht ab. Stattdessen platzte er in den Raum hinein. Der Vorgesetzte, er sah irgendwie viel älter aus, als Liam ihn in Erinnerung hatte, schaute nicht sonderlich überrascht über den lauten Besuch. Vielleicht hatte er es geradezu erahnt. »Ich habe Sie bereits erwartet.« rief er und deutete mit einer knappen Handbewegung, das Liam sich setzen konnte. »Nein, danke.« winkte er ab und blieb mitten im Raum stehen. »Wie Sie möchten.« Der Mann schloss kurz die Augen und widmete sich dann wieder voll und ganz Liam. »Es wird nicht lange dauern. Sie müssen mir nur einige Papiere unterschreiben.« Er schlug eine Mappe auf und suchte nach etwas Bestimmten. Doch schon bald musste er feststellen, das dies offensichtlich nicht vorhanden war. Ärgerlich stand er auf und murmelte irgendwelche Flüche. »Ich komme gleich wieder. Bewegen Sie sich nicht von der Stelle.« Mit diesen Worten verschwand er aus der Tür. Man hörte noch das ärgerliche Stampfen vom Boden. Doch Liam blieb nicht an seinen Platz. Im Gegenteil. Sogleich begab er sich an den Schreibtisch und öffnete die erstbesten Schubladen. Er war auf der Suche nach einer bestimmten Akte; die von Laurie. Irgendetwas musste es doch darüber geben! Seine Suche führte ihn weiter zu den Schränken an der Wand. Sein Puls beschleunigte immer mehr, denn jeden Augenblick könnte der Mann zurück kommen! Mit leicht zittrigen Fingern öffnete er eine Schublade mit den Buchstaben S und durchsuchte die Ordner. Endlich wurde er fündig und etwas ungläubig hielt er die Akte, wo mit dicken Buchstaben LAURIE SULLIVAN draufstand, in den Händen. Liam blickte sich hastig um, steckte es schnell in die Innentasche seiner Jacke, knallte den Schieber etwas zu fest und stellte sich wieder hin. Keine Sekunde später ging auch die Tür auf und der Mann setzte sich schwungvoll wieder hin. Er hielt sie Liam hin, der zögerlich herantrat. Skeptisch betrachtete er die Zettel. »Ihre Bedenken sind unbegründet.« versicherte er Liam, und hielt ihn eiligst einen Stift hin. Liam überflog die einzelnen Papiere, gab dann aber den eiligen Drängen des Augenpaares vom Mann nach und unterschrieb das Ganze. »Sehr schön.« erwiederte der Vorgesetzte und packte fein säuberlich alles in die Mappe zurück. »Damit wäre auch schon alles erledigt. Gibt es sonst noch ein Anliegen?« Liam schüttelte den Kopf. Die Mappe in seiner Innentasche kam ihm plötzlich unendlich schwer vor. »Nein. Ich glaube nicht.« antwortete er und ging zur Tür hinüber. Mit einen knappen »Auf Wiedersehen.« verabschiedete er sich und ging hastig den Gang zum Fahrstuhl entlang. Erst als er draussen auf den Bürgersteig war, atmetete er erleichtert auf. Liam ging in die Tiefgarage, gleich neben den riesigen Gebäude und stieg in sein Auto. Als er drinnen saß, zog er vorsichtig die Mappe hervor und schaute immer noch ungläubig auf die Vorderseite. Sachte strich er mit den Fingern über den Namen, jeden Augenblick bereit, vor ihn könnte plötzlich Laurie stehen. Doch das alles schrieb er wieder die Ausgeburt seiner Fantasien zu. Er warf einen schnellen Blick hinein, schlug es aber wieder heftig zu, als wäre es in Flammen. Sein Atem ging auf unnatürliche Weise stoßweise. Er glaubte, seine Gedanken hätten ihn einen weiteren Streich gespielt, denn zu gerne würde er glauben, das es unwahr ist. Doch schon das erste Blatt betitelte in fetten Buchstaben: ALIVE

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